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Bleibe, wie du bist – Das Unding des Selbstschutzes

  • Der Vater
  • 26. Sept. 2024
  • 2 Min. Lesezeit

Statue mit Taube

Stellen Sie sich vor, jemand kommt auf Sie zu, mit einem Gesichtsausdruck, als hätte er soeben das Geheimnis des Universums gelüftet, und sagt: „Bleibe, wie du bist!“ Man könnte meinen, man habe soeben das höchste Lob empfangen, eine Art verbales Verdienstkreuz, verliehen für den Zustand des vollständigen Menschseins. Doch halt! Ein tieferes Nachdenken über diesen Satz offenbart ihn als nichts weniger als eine paradoxe Zumutung.


„Bleibe, wie du bist“ – das klingt so beruhigend, so stabil, wie die gute alte Teekanne, die seit Jahren ihren Dienst tut und niemals daran gedacht hat, sich in eine Espressomaschine zu verwandeln. Aber sind wir Menschen nicht eher wie Teebeutel, die ihre Essenz erst in heissem Wasser entfalten? Wie sollen wir uns da mit einem festen Zustand begnügen? Würde man ein Huhn bitten, stets das Ei zu bleiben, weil es so schön handlich ist? Man stelle sich den Empörungsausbruch vor, wenn es sich dazu entschlösse, stattdessen ein stolzer Hahn zu werden!


Natürlich, die Idee dahinter ist schmeichelhaft. „Bleibe, wie du bist“ suggeriert, dass der Adressat bereits eine Art vollendetes Kunstwerk darstellt, das sich nicht weiter verändern sollte – eine Statue, die in ewiger Unbeweglichkeit bewundert werden kann. Doch wir wissen alle, was mit Statuen geschieht: Irgendwann nisten sich Tauben ein, und plötzlich hat man mehr als nur einen Grund, die Dinge in Bewegung zu setzen.


„Bleibe, wie du bist“ – ein Appell an die Konservierung, eine Einladung zur Erstarrung. Und doch, in seiner wohlwollenden Naivität, ignoriert dieser Satz die Tatsache, dass das Leben selbst eine ständige Metamorphose ist. Jeder Tag ist eine Aufforderung zur Veränderung, zum Wachsen, zum Entfalten.


Ein weiser Mensch sagte einmal: „Wenn du dich nicht veränderst, wirst du eingeholt.“ Von was? Vom Leben selbst! Denn das Leben ist ein unaufhaltsamer Strom, der alles mitreisst, was nicht fest verankert ist – und selbst das ist nicht sicher. „Bleibe, wie du bist“ ist der verzweifelte Ruf eines Menschen, der sich am Ufer festklammert, während der Fluss der Zeit unaufhörlich fliesst.


Wie schade, dass wir diesem Satz so oft begegnen, sei es in Sprichwörtern, in Grusskarten oder gar in gut gemeinten Ratschlägen von Freunden. Er ist wie eine Schlaftablette für die Seele, die uns davon abhalten soll, die Herausforderungen des Lebens anzunehmen. Aber seien wir ehrlich: Wer will schon als Museumsstück enden, bewundert von allen, aber gefangen im eigenen Glassturz?


Also, beim nächsten Mal, wenn Ihnen jemand sagt: „Bleibe, wie du bist“, dann nehmen Sie es als Kompliment – aber schmunzeln Sie innerlich, und tun Sie genau das Gegenteil. Verändern Sie sich! Werden Sie etwas Neues, etwas, das den Rat „bleibe, wie du bist“ in einem Schauer von Staub zurücklässt. Denn am Ende des Tages ist es die Veränderung, die uns am Leben hält – und vielleicht, nur vielleicht, gibt es nichts Erfrischenderes, als das eigene Ich immer wieder neu zu erfinden.


Denn, meine lieben Kinder, „bleibe, wie du bist“ – das geht wirklich gar nicht.

 
 
 

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