Ehrlich währt am längsten? Bitte nicht in meiner Nähe!
- Der Vater
- 17. Sept. 2024
- 2 Min. Lesezeit

Liebe ehrliche Mitbürger,
bitte, bevor wir uns näher kommen – haltet inne und geht lieber einen Umweg. Nicht, dass ich euch nicht mag, ganz im Gegenteil. Ich verehre eure Tugend, eure Aufrichtigkeit, eure noble Hingabe an die Wahrheit. Es gibt nur ein kleines, kaum nennenswertes Problem: Eure Ehrlichkeit ist wie eine fleischgewordene Kalaschnikow – präzise, unbarmherzig und vor allem: sie schiesst immer direkt ins Herz.
Man sagt, Ehrlichkeit währt am längsten. Das mag ja sein, aber muss es denn wirklich so lange dauern? Ich meine, wir leben in einer Welt, in der die Zeit – wie ein nervöser Teenager – ständig auf der Flucht ist. Zeit ist Geld, und wer will schon teure Wahrheiten kaufen, wenn es doch so viele günstige Lügen im Angebot gibt?
Stellt euch vor, ein lieber Freund sagt euch mit einem breiten Lächeln: "Du siehst heute aber besonders... interessant aus." Ehrlichkeit, meine Freunde, ist wie ein schlecht gelaunter Spiegel. Wenn man nicht gerade eine glatte Sieben von Zehn ist (und wer ist das schon ständig?), dann möchte man manchmal gar nicht so genau wissen, was einem entgegen strahlt.
Und dann gibt es da noch die ehrlichen Bewerter – diese modernen Inquisitoren des Kundenfeedbacks. Ihr Essen hat Ihnen nicht geschmeckt? Natürlich teilen Sie das dem Kellner mit, ganz ohne Hemmungen. Vielleicht haben Sie auch den Mut, dem Chefkoch direkt zu sagen, dass seine Kreation eher nach Scheidungsanwalt als nach Michelin-Stern schmeckt. Ich hingegen lächle höflich, murmele etwas von "interessantem Aroma" und hoffe, dass das Dessert alles wieder gutmacht.
Ja, Ehrlichkeit ist eine Tugend, aber sie kann auch eine Last sein – vor allem für die, die sie empfangen. Was wäre aus der Kunst des Smalltalks geworden, wenn alle immer ehrlich wären? "Wie geht es dir?" – "Schlecht. Das Leben ist ein endloser Strom von Banalitäten und meine Hoffnung schwindet wie die letzten Haare auf meinem Kopf." Nein, danke. Gebt mir die harmlosen Lügen, die lächelnden Floskeln, die uns durch den Tag retten.
Aber macht euch keine Sorgen, liebe ehrliche Mitbürger. Ihr seid wertvoll, unverzichtbar, eine Art moralisches Rückgrat unserer Gesellschaft. Es gibt sicherlich Menschen, die eure Wahrheit schätzen, die euch danken, dass ihr ihnen ungeschönt die Realität ins Gesicht schleudert. Doch ich bin nicht einer von ihnen. Ich ziehe es vor, die Dinge in einem sanften, wohlwollenden Licht zu sehen, auch wenn dieses Licht manchmal ein wenig... gebrochen ist.
Also, bleibt ehrlich, bleibt aufrichtig – aber, bitte, bleibt auch ein bisschen auf Abstand. Wir können uns ja zur Abwechslung mal schreiben. Denn in schriftlicher Form, so habe ich gehört, lässt sich Ehrlichkeit viel besser verkraften.
Mit verschmitztem Gruss,
Euer nicht ganz so ehrlicher, aber umso freundlicherer Vater.
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