Ich liebe die Menschheit, selten einzelne Menschen: Ein paradoxes Geständnis
- Der Vater
- 8. Aug. 2024
- 3 Min. Lesezeit

Die Menschheit, dieses wunderbare Kaleidoskop aus Kulturen, Ideen und Möglichkeiten, hat seit jeher eine magische Anziehungskraft auf mich ausgeübt. Ihre Fähigkeit, sich in die faszinierendsten und manchmal erschreckendsten Extreme zu entwickeln, ist sowohl ihre grösste Stärke als auch ihr grösstes Rätsel. Und doch, in all meiner Liebe zur Menschheit als Ganzes, gestehe ich, dass ich im Umgang mit einzelnen Menschen oft zurückhaltend, ja geradezu distanziert bin. Wie kann das sein? Ist dies eine unmenschliche Haltung? Ich denke nicht.
Stellen Sie sich vor, Sie betrachten ein wunderschönes Gemälde aus der Ferne. Aus dieser Perspektive erscheinen alle Farben harmonisch, die Formen und Linien verbinden sich zu einem Gesamtkunstwerk von überwältigender Schönheit. Doch je näher Sie herantreten, desto deutlicher werden die feinen Risse, die unsauberen Pinselstriche und die unperfekten Details. Plötzlich tritt das Ideal in den Hintergrund, und das Banale drängt sich in den Vordergrund. So ergeht es mir oft mit den Menschen.
Die Menschheit als Ganzes hat etwas Erhabenes, etwas Inspirierendes. Sie hat das Feuer gezähmt, das Rad erfunden und schliesslich vielleicht sogar den Mond erreicht. Aber der einzelne Mensch – in all seiner Widersprüchlichkeit, seiner Eitelkeit, seiner Kleinlichkeit – kann mir oft wie ein eher unvollkommener Pinselstrich in diesem grossen Bild erscheinen. Hier beginnen meine Schwierigkeiten im zwischenmenschlichen Kontakt. Es ist nicht die Abwesenheit von Zuneigung, sondern die Präsenz einer Erkenntnis: Die perfekte Harmonie der Menschheit wird durch das unvollkommene Einzelwesen zu oft aus dem Gleichgewicht gebracht.
Nun könnte man mir vorwerfen, dass ich mich der Realität verweigere, dass ich mich in ein idealisiertes Bild der Menschheit flüchte, weil ich mich vor den Unannehmlichkeiten des realen Lebens scheue. Aber ich glaube, hier liegt ein Missverständnis vor. Denn die Erkenntnis der Unvollkommenheit des Einzelnen hat nicht zwangsläufig zur Folge, dass man den Kontakt mit ihm meiden muss. Vielmehr erfordert es eine bewusste Entscheidung darüber, welche Art von Kontakt man pflegen möchte.
Ich habe oft beobachtet, dass viele Menschen in ihrem Streben nach sozialer Nähe eine Art existenzieller Panik verbergen. Die Angst vor dem Alleinsein treibt sie in die Arme anderer, oft ohne Rücksicht darauf, ob dieser Kontakt bereichernd ist oder nicht. Ich hingegen sehe im Alleinsein keinen Fluch, sondern eine Möglichkeit zur Reflexion und zum Wachstum. Die Frage, ob mein Wunsch nach begrenztem Privatkontakt unmenschlich ist, könnte also durchaus auf den Kopf gestellt werden: Ist es nicht unmenschlich, sich selbst im endlosen Trubel der Gesellschaft zu verlieren, ohne jemals die Möglichkeit zu haben, wirklich zu sich selbst zu finden?
Ich ziehe es vor, die Menschheit aus einer gewissen Entfernung zu bewundern, wie ein Kunstliebhaber, der das Gesamtwerk eines Meisters schätzt, ohne dabei jedes einzelne Gemälde bis ins Detail zu analysieren. Es ist diese Distanz, die mir erlaubt, meine Liebe zur Menschheit aufrechtzuerhalten, ohne an den Unvollkommenheiten des Einzelnen zu verzweifeln. Das heisst jedoch nicht, dass ich den Wert des einzelnen Menschen nicht erkenne oder gar verachte. Vielmehr wähle ich meine Momente der Nähe mit Bedacht und entscheide bewusst, wann und wie ich mich einlasse.
Letztlich bleibt die Frage, ob eine solche Haltung unmenschlich ist, jedem selbst überlassen. Für mich jedoch ist sie eine Form des Selbstschutzes, die es mir ermöglicht, sowohl die Menschheit als Ganzes zu lieben als auch den Einzelnen nicht zu verurteilen – zumindest nicht zu sehr. Und vielleicht, nur vielleicht, ist es genau diese Balance, die mich in meiner Zuneigung zur Menschheit als Ganzes bestärkt.
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